Sehnsucht nach Entschleunigung | stores+shops

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Men at work: Fachsimpeln, Bier trinken und Schuhe putzen. Schuhpflegekurs bei Vickermann & Stoya in Baden-Baden. (Foto: Vickermann & Stoya)

Sehnsucht nach Entschleunigung

Jeans-Marken begannen damit, Näh-Werkstätten in ihre Stores zu integrieren, andere Branchen folgten mit handwerklichen Manufaktur-Services auf der Verkaufsfläche. Der Trend heißt auf Neudeutsch Create-a-Service und verspricht dem Einzelhandel Profilierung in digitalen Zeiten. Voraussetzung ist die entsprechende Infrastruktur.

„Toms Shoes ist jetzt auch eine Kaffeerösterei.“ Alison Embrey Medina, Mitherausgeberin des Fachmagazins Design:Retail erläuterte auf der Fachmesse EuroShop am Beispiel des US-amerikanischen Schuh-Filialisten Toms, wie kreative Service-Komponenten einer Verkaufsfläche zu neuer Identität verhelfen können. Viele Einzelhändler und Store-Planer ganz unterschiedlicher Sparten setzen sich gerade damit auseinander, Service-Leistungen bewusst und gezielt im Store zu inszenieren. Das Thema scheint die Händlerseele besser zu erreichen als manche andere Handelsinnovation dieser Tage. Vielleicht deshalb, weil es keine wirkliche Neuheit ist, sondern eine uralte, mit dem Handel eng verbundene Kernkompetenz, gekleidet in einen zeitgemäße Inszenierung.

„Offene Werkstätten, Eisfabrik, Strickgeschäfte, Schuhgeschäfte, die einen Sattler engagieren– das ist ja eigentlich alles gar nichts Neues, sondern eher die Besinnung auf eines der Urbedürfnisse des Menschen“, sagt die Architektin Jessica Klatten. „Wenn Sie sehen, wie Ziegenkäse hergestellt wird, wollen Sie Ziegenkäse kaufen.“ Und der Mensch und Kunde öffnet sich dafür wieder mehr, ist sie überzeugt: „In dieser hektischen, nervösen Zeit ist die Sehnsucht nach Entschleunigung groß.“

„Das Analoge des Einzelhandels gewinnt beim Kunden wieder an Anziehungskraft“, glaubt auch Retail-Designer Wolfgang Gruschwitz. „Die Kunst des Handwerks und die persönliche Beziehung zum Kunden kann als Gegentrend zum Digital Retail angesehen und auf der Fläche aktiv gestaltet werden. Dabei geht es keineswegs um Rückschritt. Think digital, act analog ist für mich dabei der Erfolgsfaktor.“

Community Building

Zahlreiche Argumente sprechen für prominentplatzierte Service-Angebote: höhere Verweildauer, emotionale Kundenansprache, POS-Entertainment und Gesprächsstoff, Kaufanreize durch Wissensvermittlung und Instrument für Individualisierung. „Ein weiteres Motiv ist, solche Angebote für das Community Building, das Aufladen des Marken-Image, die Vermittlung einer Markenauthentizität einzusetzen“, sagt Stephan Schach, CMO bei Hartmannvonsiebenthal.

Solange es zu Zielgruppe und Lifestyle passt, ist kein Thema zu weit weg.

Alison Embrey Medina

Editor in Chief/Associate Publisher Design:Retail

Von Haus aus gute Storyteller und Brand Builder, experimentieren lifestyleorientierte Handelshäuser und Denim-Spezialisten wie Selfridges, Levi’s, G-Star oder Nudie Jeans seit einigen Jahren mit einem Nählabor im Verkaufsraum. Meilenweit entfernt vom freudlos-funktionalen Look typischer Änderungsschneidereien, sind die neuen Denim-Labs cool und bis ins letzte Detail inszeniert mit alten Industrie-Nähern, Nietenzangen und Nadelkissen und gerne hemdsärmeligen Denim-Aficionados, die Hosensäume kürzen, Löcher flicken und Jeans customizen.

Besonders konsequent baut das niederländische Denim-Label Denham sein Denim-Labor als festen Bestandteil aller eigenen Läden aus. Im kürzlich eröffneten Concept Store in Ginza Tokio teilt sich die Verkaufsware die Fläche mit einem Schneideratelier mit mehreren Arbeitsplätzen, einem Handwasch- und Trocken-Service gemäß der Überzeugung: eine authentische Jeans wird sowieso nur in Notfällen gewaschen, dann aber mit Kernseife, Hingebung und Handarbeit als Event. Nebenbei gibt es eine hübsche kleine Bar. „Wir reparierendie Hosen und tun auch sonst alles dafür, eine Jeans möglichst lange am Leben zu erhalten, weil wir wissen: Je länger sie getragen werden, umso besser werden sie“, begründet Jason Denham, Gründer und Chief Creative Officer, marketinggemäß.

Die Handywerkstatt im O2-Concept Store in Berlin erinnert an einen Kiosk-Verkauf früherer Zeiten und ist prominent im Store platziert. (Foto: hartmannvonsiebenthal/André Müller)

Die Handywerkstatt im O2-Concept Store in Berlin erinnert an einen Kiosk-Verkauf früherer Zeiten und ist prominent im Store platziert. (Foto: hartmannvonsiebenthal/André Müller)

Was wie lockerer Lifestyle wirkt, bedarf unter Umständen umfangreicher Planungsarbeit. Waschen, Trocknen und Nähen auf der Verkaufsfläche erfordert die entsprechende Infrastruktur. „Geräusche, Geruch, Lichtbedingungen, Platzangebot, Zuwege – da können schon Faktoren dabei sein, die die Integration von Service-Angeboten im Retail-Bereich ausschließen oder zumindest erschweren“, erläutert Stephan Schach. „Angebote wie zum Beispiel die O-Werkstatt oder der Workshop-Bereich in den O-Flagshipstores benötigen einen gewissen Platz, der nur auf größeren Flächen gespielt werden kann, um das Kernsortiment nicht einzuschränken. Besondere Ausstattungsmerkmale wie Kunden-WC , Wickelbereich, Wasserspender oder technische Ausstattung wie NFC-Bezahlsysteme erfordern zusätzlich eine gewisse logistische Einbindung in das Gesamtkonzept, um nicht den Gesamtablauf zu stören. Zudem müssen Funktion und Betrieb gesichert sein“, so Schach. „Und, ein Basis-Kriterium: „Geschultes und ausreichend vorhandenes Personal.“

Gemütliches Beisammensein

Bei Vickermann & Stoya in Baden-Baden löste sich die Raumfrage, als die Wohnung über der eigenen Maßschuhmanufaktur frei wurde. Matthias Vickermann und Martin Stoya begannen vor 7 Jahren, am schweren Holztisch mit Werkstattcharakter abendliche Schuhpflegekurse für Männer anzubieten – Schürze, Führung durch die Manufaktur, Catering und anschließendes gemütliches Beisammensein an der kleinen Bar inklusive. Die Idee funktionierte. Sie brachte Zusatzeinnahmen, neue Kunden, überregionale Bekanntheit und prominente PR in geradezu hingebungsvollen Artikeln in Zeitungen wie der FAZ, die auch dazu beitrugen, das Thema in die Öffentlichkeit zu transportieren. Im Lauf der Jahre nahm die Idee Einfluss auf das gesamte Geschäft der leidenschaftlichen Maßschuhmacher. Sie sind inzwischen bundesweit und international vernetzt und haben mit einem weiteren Geschäftspartner noch einen separaten Store für feines britisches rahmengenähtes Herrenschuhwerk an ihre Manufaktur angedockt.

Was jedoch, wenn keine Handwerkstradition mit dem Produktsortiment verknüpft ist? Neue Themen kreieren? Kooperationspartner suchen? „Solange es zu Zielgruppe und Lifestyle passt, ist kein Thema zu weit weg“, glaubt Alison Embrey Medina. „Der Uhren- und Lederwarenhersteller Shinola integrierte kürzlich ein Tattoo-Studio in seinen Laden in Los Angeles. Vielleicht sehen wir bald Baby-Stores, in denen Mütter und potenzielle Nannys aufeinandertreffen und Schuhläden, in denen Fußprobleme mit Podologen vor Ort besprochen werden können. The Sky is the Limit.“

Fotos (6): Vickermann & Stoya; Denham The Jeanmaker; hartmannvonsiebenthal/André Müller

Weitere Informationen: redaktion@ehi.org

Meditative Momente

Das Architektinnen-Team Anna Nicolas und Jessica Klatten entwickelte das Konzept für das neue Maison Jardin Wempe in München mit einer offenen Uhrmacherwerkstatt an zentraler Stelle, die die Kompetenzen des Familienunternehmens auf emotionale, menschliche Weise spiegelt. Fragen an Jessica Klatten.

Wie kam es zu der Uhrenwerkstatt im neuen Flagshipstore von Wempe in München?

Wempe ist nach wie vor traditionelles Fachgeschäft und Manufaktur. Am Firmensitz in Hamburg, in der Niederlassung im sächsischen Glashütte und andernorts beschäftigt Wempe über 100 Uhrmacher. Diese Kompetenz sollte in München sichtbar und erlebbar werden. Denn der Preis wirklich hochwertiger Uhren rechtfertigt sich nicht nur über einen wohlklingenden Namen
wie Patek Philippe oder Rolex, sondern über eine aufwändige, komplexe Mechanik. Die Herstellung komplizierter Uhrwerke beträgt häufig viele Monate, das dafür erforderliche Knowhow ist beachtlich. Es gibt Zifferblätter, an denen ein Jahr lang gearbeitet wird.

Wie sind Sie konzeptionell und gestalterisch da herangegangen?

Uns war wichtig, einen traditionellen Werkstattcharakter auf moderne Weise herzustellen. Im Fotoarchiv von Wempe haben wir fantastische Aufnahmen alter Werkstätten gefunden. Die Werkstatt sollte Anspruch und Handwerk der Uhrmacher, die feinmechanisch wahrlich Künstler sind, im Ladenbau spiegeln, in der Tischlerarbeit aus Eukalyptusholz mit Sprossen aus Rund- und Eckprofilen, in geformten Glasscheiben und anderen Details.

Was bringt so ein Service wem?

Das Signal ist: Es geht nicht nur ums Verkaufen, sondern um zwischenmenschliche Erlebnisse, Kommunikation, Wissenstransport, Vertrauen, Aufrichtigkeit, Respekt vor dem Produkt und der Handarbeit und auch darum, einen Ort zum Verweilen zu schaffen. Hier zählt auf beiden Seiten der Mensch. Der Hektik der monotonen Fußgängerzonen zu entkommen, um mal dem Takt einer Großuhr zu folgen, ist übrigens ein ausgesprochen meditatives Moment.

Welche Herausforderungen gibt es?

Es muss davon ausgegangen werden, dass solche Serviceleistungen längst nicht jede Kundenschicht erreichen, denn sie setzen ein gewisses Wertebewusstsein voraus. Nicht zufällig sind es derzeit häufig Luxusmarken, auch in der Mode, die traditionelle Handwerksbetriebe aufkaufen, um deren Wissensschatz zu erhalten und zu nutzen. Und es setzt natürlich auch Mut, Engagement und Haltung voraus, Verkaufsflächen in exklusiver Lage mit hohen Mieten dafür zu nutzen, handwerklichen Hintergrund prominent darzustellen.

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Personalmanagement

Mehr Service, mehr Umsatz, mehr Motivation

Die ATOSS Retail Solution ist eine Software für Workforce Management im Einzelhandel. Sie ermöglicht einen bedarfsorientierten Personaleinsatz und leistet so einen messbaren Beitrag zu mehr Produktivität, Servicequalität und Mitarbeiterzufriedenheit.