Wenn im Herbst die Eiscafés für ein halbes Jahr schließen, übernimmt in Großbritannien und Irland der Calendar Club. Das Handelsunternehmen mietet jährlich mehr als 300 Geschäftsräume, um dort zwischen Oktober und Januar seine Kalender und Geschenksortimente zu verkaufen. Ist einer der rund 2.700 verschiedenen Kalender im Shop nicht vorrätig, fragt der Mitarbeiter an seiner Toshiba-Kasse den Lagerbestand ab und stellt dem Kunden einen Coupon aus. Ordert der Kunde anschließend von zu Hause aus online, werden ihm keine Kosten für die Zustellung berechnet.

Service für ihre Multichannel-Kunden bieten auch die dm-Drogeriemärkte. Wer als Kunde des Händlers den Online-Bezahlverfahren nicht vertraut, kann seine Internet-Bestellung in der Filiale bezahlen. Dazu hat der Dienstleister Gebit Solutions sämtliche Kassensysteme in den bundesweit rd. 1.400 dm-Filialen mit dem Online-Bezahldienst „barzahlen.de“ vernetzt. Weiteres Beispiel: Der Modefilialist Jeans Fritz bietet seinen Kunden die Möglichkeit, online gekaufte Ware versandkostenfrei in eine beliebige Filiale liefern zu lassen. Dort kann der Kunde die bestellten Kleidungsstücke begutachten und anprobieren. Eine Verpflichtung zum Kauf besteht nicht.

Multichanneling ist jetzt

Derartige Services sind bisher eher die Ausnahme – in naher Zukunft jedoch werden solche Dienste im Einzelhandel Alltag sein. Schon heute, so eine Studie des Kölner Instituts für Handelsforschung (IfH), neigen knapp 90 Prozent der Verbraucher zum Multichanneling, also zur Nutzung verschiedener Informations- und Kaufkanäle. „Jeder Händler hat zu Multichannel eine klare Alternative, und die lautet Umsatzverzicht“, so die Meinung von IFH-Geschäftsführer Dr. Kai Hudetz. Der Handel muss sich also auf das neue Kundenverhalten einstellen. Bei inzwischen über 50 Prozent der großen Handelsfilialisten wird Multichanneling als strategisches IT-Projekt geplant, stellt die EHI-Trendstudie 2013 fest (siehe Chart).

IBM verfolgt die Fortschritte in seiner jährlich erscheinenden Untersuchung „Omnichannel Maturity Index“. Dabei werden Handelsunternehmen anhand von 75 Kriterien auf ihre MC-Fähigkeit getestet. Dazu gehören: kanalübergreifendes Marketing, Pricing, Artikelpräsentation, Online-Bestellung in der Filiale, Rückgabe- und Umtauschprozesse sowie Kundenbindungsprogramme zur Kanal-Integration. Der Handel mit Consumer Electronics ist beim Omnichanneling nach dem IBM-Ranking 2013 am weitesten fortgeschritten. Unter den Top 10 konnten sich allein fünf Elektronik-Händler platzieren, mit Conrad an der Spitze. Warenhäuser und Modefilialisten bewegen sich im Mittelfeld, der Food-Handel hält im Branchenvergleich die rote Laterne – deswegen nicht verwunderlich, weil der Online-Kanal beim Kauf von Lebensmitteln bislang jedenfalls kaum eine Rolle spielte.

Noch viel Handlungsbedarf

Das Ranking darf nicht darüber hinwegtäuschen: Die meisten Handelsunternehmen sind von umfassenden und funktionierenden MC-Prozessen noch weit entfernt. „Es besteht deutlicher Handlungsbedarf“, konstatiert IT-Berater Jochen Hampe und nennt als Beispiel den Verkauf eines nicht in der Filiale befindlichen Artikels über die Kasse mit Verfügbarkeitsauskunft und Reservierungsmöglichkeit, Anstoß eines zentralen Kommissionierauftrags und anschließender sauberer monetärer Abwicklung im Rechnungswesen. „Bei Kassenauswahlverfahren waren auch führende Anbieter mit diesem Use-Case überfordert“, berichtet Hampe.

Und das ist nur ein Use-Case von mehreren. Mit der Entwicklung Multichannel-fähiger Handelskonzepte kommen künftig viele zusätzliche Aufgaben auf den Checkout zu. Denn beim Hopping durch die Kanäle will sich der Kunde am liebsten keinerlei Restriktionen unterwerfen. Er will an der Kasse abholen und bezahlen, was er online bestellt hat. Er will an der Kasse reklamieren oder umtauschen, was ihm per Versand geliefert wurde. Er will Coupons einlösen, die er sich aus dem Webshop heruntergeladen hat. Er will eventuell Liefertermine für online bestellte Ware vereinbaren. Er will Auskunft über noch nicht gelieferte Ware und vieles mehr.

Wer als Händler diese Kunden dauerhaft binden will, muss solche Prozesse reibungsfrei ermöglichen. Dazu allerdings braucht er eine kanalübergreifend einheitliche Sicht auf Käufe, Bestellungen, Bestände und Warenauslieferungen. Sein Checkout muss den Online-Kunden und seine Aktivitäten kennen. Die bare und unbare Zahlungsabwicklung einschließlich der Verrechnung von Anzahlungen, Restzahlungen, Rückerstattungen muss synchronisiert sein. Marketing-Aktionen müssen kanalübergreifend an der Kasse abgewickelt werden können.

Statt hierfür ein Netzwerk anfälliger Schnittstellen-Verbindungen zu knüpfen, gehen viele Handelsbetriebe dazu über, eine zentrale, webbasierte Integrationsplattform zu installieren, die als übergeordnete MC-Intelligenz dient und die sowohl den zentralen Anwendungen als auch den POS- und Webshop-Anwendungen konsolidierte Daten zur Verfügung stellt. Ob GK Software, NCR, Micros oder Wincor Nixdorf – die Lösungen der IT-Dienstleister bauen auf solchen Plattformen auf. Nach dem Baukasten-Prinzip können damit Crosschannel-Funktionalitäten sukzessive ausgebaut werden – im ersten Schritt etwa eine „Click and Collect“-Anwendung zur Abholung von online bestellter Ware in der Filiale. Die Handelsunternehmen können sich so auf die Aspekte des Crosschannel-Managements konzentrieren, die ihr Kerngeschäft betreffen, so Micros-Geschäftsführer Thilo Freund.

Lohn der Anstrengungen

Ob aufrüsten oder umbauen – die Migration zum lupenreinen Multichannel- Händler erfordert meist hohe Investitionen in die informationstechnischen Systeme. Die Handelsunternehmen reagieren darauf mit der Umschichtung ihrer IT-Etats. Cetin Acar, Autor der EHI-Kassenstudie: „Die Budgets für Basisarbeiten wie Zentralsystem-Konsolidierung, Lieferantenanbindung und WWS-Optimierung werden um rund ein Drittel zurückgefahren, während Multichannel-Aktivitäten deutlich ausgebaut werden.“ Doch nach den Anstrengungen winkt die Belohnung. Laut einer von Professor Joachim Zentes von der Universität des Saarlandes durchgeführten Studie erklären 89 Prozent der befragten Einzelhändler, dass Konsumenten, die über verschiedene Vertriebskanäle mit ihnen in Geschäftsbeziehung treten, sehr profitabel seien, also mehr Umsatz bringen als jene Kunden, die nur einen Vertriebskanal nutzen.

Foto: dm-drogerie markt