Die Betriebsformen im Lebensmitteleinzelhandel sind klar definiert, doch die Grenzen sind fließend. Große Filialisten investieren verstärkt in kleinflächige City-Formate, Supermarktbetreiber eröffnen neue Märkte in SB-Warenhausdimensionen. Herr Wilhelm, spiegelt sich dieser Veränderungsprozess auch im Filialnetz von Tegut wider?
Wilhelm: Wir unterscheiden bei Tegut 3 Vertriebskonzepte: Der „Supermarkt“ hat eine Verkaufsfläche von 800 bis 3.500 Quadratmetern und ist immer mit einer Bedienungsabteilung ausgestattet. Der „Nahversorger“ ist bis auf wenige Ausnahmen ein reiner SB-Markt mit Verkaufsflächen von 400 bis 1.200 Quadratmetern. Bevorzugte Standorte für beide Formate sind Städte und City-Lagen. Mit dem dritten Konzept, den Tegut „Lädchen“, gehen wir in die ländlichen Regionen. Auf Flächen von 120 bis 200 oder 300 Quadratmetern stellen die Lädchen die Versorgung der Bevölkerung in strukturschwachen Regionen sicher, oftmals in Zusammenarbeit mit karitativen Einrichtungen.
Welche strategische Bedeutung haben die Nahversorger in den City-Lagen für Ihr Unternehmen?
Wilhelm: Wir beobachten, dass City-Standorte für Lebensmittelmärkte stark nachgefragt werden, sowohl von den Konsumenten als auch von den Kommunen und Städten. Die Politik hat in den letzten Jahrzehnten Sünden begangen, indem man alles an der Peripherie angesiedelt hat. Jetzt versucht man, diese Sünden wieder rückgängig zu machen, indem man Standorte in der Innenstadt schafft und belegen möchte.
Auf welche Regionen werden Sie sich bei der Expansion Ihres Filialnetzes konzentrieren?
Wilhelm: Wir planen in diesem Jahr 6 Neueröffnungen, darunter 4 Supermärkte und 2 Nahversorger. Der Expansionsschwerpunkt für die kommenden Jahre liegt auf dem erweiterten Rhein-Main-Gebiet, dem Großraum Stuttgart sowie der Region Nürnberg/Fürth/Erlangen.
Wir expandieren auch in neue Wirtschaftsgebiete.
Alexander Wilhelm
Mit welchen Herausforderungen sehen Sie sich bei der Expansion konfrontiert?
Wilhelm: Die Standorte auf der grünen Wiese sind leider so gut wie ausgereizt. Man muss heute sehr flexibel sein in der Flächenbelegung und individuell auf die spezifischen Gegebenheiten eines Standorts eingehen können. Die Zeiten, als man sagen konnte: Wenn ich bei einer Bestandsimmobilie die passende Fläche für das Standardformat nicht vorfinde, dann nehme ich den Standort nicht, sind vorbei.
Bis 2017 wollen Sie jährlich rund 30 Märkte revitalisieren. Welchen Umfang haben diese Maßnahmen?
Wilhelm: Das Minimumpaket bei der Revitalisierung ist die Erneuerung der gesamten Einrichtung nach dem neuen Ladenkonzept, inklusive Fußbodenbelag und Beleuchtung. Während der Umbauzeit sind die Märkte mindestens 4 bis 5 Wochen, oft auch mehrere Monate geschlossen. Das Maximum ist Abriss und Neubau. Tegut hat in den letzten Jahren einen massiven Investitionsstau angehäuft. Diesen Investitionsstau gilt es nun zu beheben. Gleichzeitig haben wir uns vorgenommen, das neue Ladenkonzept auszurollen, bei allen Revitalisierungen und natürlich bei den geplanten Neueröffnungen.
Der erste Eindruck des Kunden muss die Frischekompetenz sein.
Michael Ball
Welche Überlegungen standen bei der Entwicklung des neuen Ladenkonzepts im Vordergrund?
Ball: Das neue Ladenkonzept feierte im April 2014 mit der Wiedereröffnung des Tegut Supermarktes in Wiesbaden Premiere. Bei Projektstart ein Jahr zuvor sind wir praktisch bei Null gestartet. Als erstes haben wir den Markt und die strategischen Grundlagen analysiert: Was erwartet der Kunde in Zukunft von einem modernen und zeitgemäßen Supermarkt? Wo will Tegut hin? Wie muss ein Markt von Tegut aussehen, damit er die definierten Werte dem Kunden gegenüber widerspiegeln kann? Die Planung und Ausführung des neuen Konzepts lag in den Händen der Schweitzer Project AG. Nach Wiesbaden wurden 2014 noch 3 weitere Standorte mit dem neuen Ladenkonzept in Stuttgart, Gelnhausen und Frankfurt eröffnet.
Inwieweit konnte Tegut bei den ganzen Veränderungsprozessen von den Erfahrungen der Konzernmutter Migros profitieren?
Ball: Die Migros war an der Entwicklung des neuen Ladenkonzepts durch die Mitarbeit in der Projektgruppe beteiligt. Insgesamt hatten wir freie Hand, einen wiedererkennbaren, eigenständigen Marktauftritt für Tegut zu entwickeln. Dabei konnten wir von den Erfahrungen der Migros profitieren und haben den einen oder anderen Bestandteil des aktuellen Migros-Konzepts adaptiert, angepasst an den deutschen Markt und die Bedürfnisse der deutschen Verbraucher.
Welches sind die Hauptmerkmale des neuen Ladenkonzepts von Tegut?
Ball: Es ging zunächst um die Gestaltung der äußeren Hülle, verbunden mit dem Ziel eines eigenständigen Marktauftritts. Eine der Kernfragen lautete: Wie lässt sich die Marke Tegut dreidimensional im Raum abbilden? Zum anderen wollten wir die Ware wieder mehr in den Vordergrund rücken. Darauf aufbauend haben wir unser Gestaltungskonzept entwickelt mit der ruhigen, warmen Hülle und zurücknehmenden, natürlichen Materialien. Wo wir Holz einsetzen, ist es Echtholz und keine Holzoptik. Die Farbakzente im Markt kommen durch die Ware und die Tegut Corporate Identity.
Entgegen den klassischen Platzierungsprinzipien sind die Frischwaren bei den neuen Tegut-Märkten komplett im vorderen Bereich platziert. Warum?
Ball: Für einen Supermarkt in Deutschland ist die Frische ein zentrales Element. Der erste Eindruck des Kunden muss daher die Frischekompetenz sein. Obst und Gemüse, Brot und Backwaren, gekühlte Convenience-Produkte, Fleisch und Wurst, Fisch, Käse und Molkereiprodukte belegen nach dem neuen Ladenkonzept den ersten Teil des Marktes. Standortspezifisch gibt es einen höheren Convenience-Anteil im Sortiment mit neuen gastronomischen Komponenten, z.B. warme Fertiggerichte und „Kaffee to go.“
Was zeichnet die Kundenführung in den neuen Supermärkten aus?
Ball: Früher haben wir die Tegut Märkte sehr frei gebaut, was Kundenlauf, Wegelayout und Sortimentsabfolge betrifft. Der Kunde betritt den Markt, er sieht alles und wegen der Warenfülle dennoch nichts. Er geht weite Wege und läuft zurück, wenn er einen Artikel nicht gleich findet. Heute wissen wir, dass wir dem Kunden in Zeiten zunehmender Komplexität keinen Gefallen mehr damit tun. Die Frage war also: Wie können wir den Kunden im Einkaufsvorgang begleiten, diesen erleichtern, indem wir ihn durch den Markt führen? Die neuen Märkte haben daher eine Kundenführung, die aber auch Aussprünge zulässt.
Wilhelm: Das alte Konzept war durch eine mangelnde Einkaufseffizienz gekennzeichnet. Die Kunst des neuen Ladenkonzepts ist es, eine verbesserte Einkaufseffizienz zu schaffen, ohne eine Zwangsführung vorzugeben.
Wie werden Frischwaren und Trockensortiment räumlich voneinander abgegrenzt?
Ball: In den Pilotmärkten haben wir mit einer raumteilenden Trockenbauwand gearbeitet, die den Kunden durch die Frischebereiche zum Lebensmitteltrockensortiment leitet. Hier beginnt die rationale Phase des Einkaufs. In den größeren Märkten haben wir Durchlässe berücksichtigt, damit Kunden, die etwas vergessen haben, auch wieder schnell zurück können.
Die visuellen Kommunikationsmittel werden in den Märkten eher zurückhaltend eingesetzt. Warum?
Ball: Die neue Anordnung der Sortimente und Regale hat verkürzte Gondellängen zur Folge. Das Sortiment lässt sich so schneller erfassen. Ein Ziel der Maßnahme war es auch, die kommunikativen Elemente am POS zu reduzieren und die Ware mehr sprechen zu lassen. Auf die klassische Sortimentsbeschilderung über dem Regal verzichten wir, ebenso auf großflächige Stimmungsbilder. Wir wollen nicht mehr den strahlenden Salatkopf über der Obst- und Gemüseabteilung zeigen. Die Ware ist der Star.
Fotos (5): Tegut
Das Interview führten Winfried Lambertz und Claudia Horbert.
Informationen zur Anzahl der Verkaufsstellen von Tegut und weitere EHI-Statistiken finden Sie unter http://www.handelsdaten.de/lebensmittelhandel/anzahl-der-verkaufsstellen-der-tegut-zeitreihe
Revitalisierung
Die „tegut… gute Lebensmittel GmbH & Co. KG“ betreibt in Hessen, Thüringen, Bayern sowie in Göttingen, Mainz und Stuttgart 280 Lebensmittelmärkte. Während die 130 Supermärkte in Eigenregie betrieben werden, handelt es sich bei den 125 Nahversorgermärkten um inhabergeführte Geschäfte. 25 Tegut „Lädchen für alles“ sind mit Flächen ab 120 qm für die Versorgung auf dem Land und in Stadtquartieren konzipiert. Das Handelsgeschäft erzielte 2014 einen Netto-Umsatz von 970,1 Mio. Euro. Die temporäre Schließung von 24 Märkten wegen Revitalisierung führte 2014 zu einem Umsatzrückgang von 7 Mio. Euro. Die Phase der Revitalisierung soll sich bis 2017 mit rund 30 Märkten jährlich fortsetzen. Seit 2013 ist das Tegut-Handelsgeschäft ein Teil der Genossenschaft Migros Zürich. Insgesamt sind über 5.200 Menschen in den Märkten, den Logistikzentralen und den Zentralen Diensten in Fulda für Tegut tätig.
Weitere Informationen: www.tegut.com