Erlebnisse und Emotionen. Wie ein Mantra hat der Einzelhandel in den letzten Jahren wiederholt, dass Sensationen geschaffen und Gefühle geweckt werden müssen, um die wachsende Community ausgehfauler Online-Shopper hinter dem Ofen hervorzulocken. Doch welcher Art sollen solche Erlebnisse und Emotionen sein? Vermögen Hightech-Tools, die den Prozess des Einkaufens vereinfachen und beschleunigen sollen, die anspruchsvolle Klientel auf Dauer zu fesseln? Oder sucht der selbst bis an die Zähne hochtechnisierte Kunde vielleicht viel eher analoge Begegnungen? Oder gar Entschleunigung? Dieser Gedanke drängt sich angesichts einiger aufregender Neueröffnungen der jüngsten Zeit auf.

Betrachtet man die Store-Konzepte, die in den letzten Monaten Aufsehen erregten, so scheinen Besinnung und Kontemplation, Sinnlichkeit und Nähe zur Natur, künstlerische oder philosophische Botschaften und Konzentration auf das Wesentliche wichtige Trends zu sein. In China schießen spektakulär eingerichtete Buchläden wie Pilze aus dem Boden. Von Brooklyn bis Barcelona frönt man in dschungelartigen Pflanzen-Stores der Natur. Und übt man in Korea und Dubai verstärkt den Schulterschluss mit der Kunst, so steht in Kapstadt und Kopenhagen das leibliche Wohl offensichtlich besonders hoch im Kurs – Gastro-Shopping scheint hier aktuell das Maß aller Dinge zu sein. Alles schon dagewesen? Die neuen Konzepte folgen neuen Gesetzmäßigkeiten, sei es in Sachen Größe, Opulenz, Konsequenz, Angebot oder Qualität.

Avantgardistische Buchläden

Totgeglaubte leben länger. Das gilt nicht zuletzt für Buchläden, die seit dem Erstarken des Online-Handels hierzulande zu einer aussterbenden Spezies zu gehören scheinen. In anderen Teilen der Welt, in Asien beispielsweise, insbesondere aber in China, erleben Buchläden derzeit einen Boom – freilich in zeitgeistiger Interpretation. Die neuen Lesetempel sind nicht nur von herausragendem Design geprägt, sondern auch Oasen der Ruhe und inneren Einkehr.

Im nordchinesischen Qinhuangdao gilt die in spektakulärer Strandlage eröffnete, 450 qm große minimalistische Sanlian Public Library als die einsamste Bücherei des Landes. In der südwestchinesischen Metropole Chongqing eröffnete im Einkaufszentrum Zodi Plaza ein 1.300 qm großes Bücherparadies seine Tore: Über die dritte und vierte Etage des Zentrums erstreckt sich der Zhongshuge Bookshop – angesichts der 30 Mio. Einwohner im Großraum Chongqing wohl eine angemessene und profitable Größe.

Als Spezialist für diese gestalterisch exzessiv durchdeklinierten Bookstores hat sich das in Shanghai beheimatete Designbüro X+ living im Reich der Mitte einen Namen gemacht. Gründer Li Xiang wählte für Zhongshuge altehrwürdige Bibliotheken als Referenz und tauchte die Räume mit den deckenhohen Regalen in dunkle Brauntöne. An die Penrose Stairs, die „unmögliche Treppe“ des Surrealisten M.C. Escher erinnern die im Zickzack an den Bücherwänden aufsteigenden Stufen. Besucher sollen sich in einem privaten Studienraum wähnen, wenn sie im warmen Licht, das sich unter den chinesischen Lampenschirmen verbreitet, die Bücher zur Hand nehmen. Lange Gänge mit meterhohen Regalen entfalten einen regelrechten Sog, der die Bibliophilen tief in die Welt der Literatur und des Wissens hineinzieht. Das gestalterische Tüpfelchen auf dem i sind eine strenge Geometrie und Spiegelflächen, die die Symmetrie multiplizieren.

Zwischen Kunst und Konsum

Das Brillenlabel Gentle Monster in Dubai: ein retrofuturistischer Phantasie-Roboter steht im Mittelpunkt einer grünen „Oasen-Landschaft“

Das Brillenlabel Gentle Monster in Dubai: ein retrofuturistischer Phantasie-Roboter steht im Mittelpunkt einer grünen „Oasen-Landschaft“
Foto: Gentle Monster

Auch in Seoul, der Hauptstadt des Nachbarn Südkorea, gehört ein 9.000 qm großer und mit abertausenden Büchern bestückter Bookstore zu den Shopping-Attraktionen. Weltweit von sich reden macht hier noch ein völlig anderes, jedoch nicht minder spektakuläres Konzept: Das südkoreanische Brillenlabel Gentle Monster balanciert mit seinem Gallery-meets-Store-Ansatz auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Konsum. Aberwitzige, raumgreifende Installationen, deren Charme nicht selten auf einem unprätentiösen Do-it-yourself- Look beruht, locken unzählige Neugierige in die Geschäfte. Die avantgardistischen Brillen nehmen dort einen vergleichsweise kleinen Raum ein. Understatement und Nonchalance sind gewollt.

Die junge Klientel schätzt die überschäumende Kreativität der Marke, folglich greift das Konzept bei der Zielgruppe bestens. Seit 2011 expandiert Gentle Monster in alle Teile der Welt – rund 50 Verkaufspunkte zählt man inzwischen. Und die Ideen gehen den Machern nicht aus. Die jüngste Neueröffnung in der Dubai Mall ist eine fruchtbare grüne Oase, die von einem retrofuturistischen Phantasieroboter regiert wird – eine kinetische Installation, die eine künstlerische Botschaft enthält: Sie ist Sinnbild für die Hoffnung auf eine zukünftige intakte Agrargesellschaft, in der Mensch und Natur im Einklang existieren.

Rückbesinnung auf die Natur

Überhaupt ist die Natur bei den Store-Konzepten wichtiger Impulsgeber. Schöne Beispiele für naturinspirierte Shopping-Erlebnisse finden sich diesseits und jenseits des Atlantiks.

Thema Natur: Der Store Greenery Unlimited in New YorkThe Audo in Kopenhagen: ganzheitliches Ensemble aus Retail Space, Office, Verkaufsfläche, Gastronomie und Luxus-Unterkunft

Thema Natur: Der Store Greenery Unlimited in New YorkThe Audo in Kopenhagen: ganzheitliches Ensemble aus Retail Space, Office, Verkaufsfläche, Gastronomie und Luxus-Unterkunft
Foto: Brad Dickson für Greenery Unlimited

L’Hivernacle d’Horta in Barcelona ist ein familiengeführtes Gartencenter in einem von dem katalanischen Modernisten Josep Amargós i Samaranch für die Weltausstellung 1888 errichteten Gebäude. Schon allein die ästhetische Verschmelzung der Stahl-und-Glas-Architektur mit der opulenten Vegetation des Stores hat das L’Hivernacle d’Horta zum beliebten Treffpunkt werden lassen. Einheimische und Touristen kommen für einen Kaffee und einen Plausch hierher, und wo man schon mal die Gelegenheit hat, nimmt man noch eine neue Gartenidee oder eine Topfpflanze mit.

Auch naturnah, aber etwas weniger rustikal ist das Ambiente bei Greenery Unlimited in Brooklyn, New York, dessen Macher sich als Botschafter von botanischer Kunst sehen. In ihrem nahezu dschungelartig begrünten Store wird der Beweis geführt, dass Pflanzen die Ausstrahlung eines Ortes nachhaltig verändern. Die Gründerin Rebecca Bullene erklärt ihren Ansatz: „In einer Welt, die immer mehr von Technologie durchdrungen wird, halte ich esfür essenziell, die Verbindung zu Mutter Erde aufrechtzuerhalten. Die Natur lehrt uns Achtsamkeit, sie lässt uns innehalten, die Gegenwart wahrnehmen – sie ist das beste Gegenmittel für den Stress, den viele Menschen heute empfinden, die den ganzen Tag am Bildschirm arbeiten.“ Dass Greenery Unlimited nicht nur als Verkaufspunkt dient, sondern das Team auch andere Retail Spaces, private Räume und Bürogebäude als Grünoasen ausstattet, liegt bei diesem Sendungsbewusstsein buchstäblich in der Natur der Sache.

Sinnlichkeit und Gastfreundschaft

The Yard in Kapstadt: Cross-over- Konzepte in Gastronomie und Sortiment

The Yard in Kapstadt: Cross-over- Konzepte in Gastronomie und Sortiment
Foto: The Yard

Einer geradezu logischen Konsequenz folgen auch Store-Konzepte, die Sinnlichkeit und Gastfreundschaft einschließen. Die südafrikanische Metropole Kapstadt wird für ihre kulinarische Vielfalt gepriesen. Was liegt also näher, als einen Concept Store mit afrikanischen Lifestyle- und Gourmetprodukten und ein Restaurant zu koppeln? Abigail Bisogno, die Inhaberin, hat im neuen Silo District, der durch das architektonische Schmuckstück des Zeitz Museum of Contemporary Art Africa zum neuen Hotspot der Stadt avancierte, einen Akkord aus einem cross-kulturellen Restaurant, einem Café und einem Store geschaffen. Das Angebot von The Yard bestimmen Homeware, Accessoires, Bekleidung und Schmuck. Das Prinzip scheint zwar bekannt. Die Umsetzung und das Portfolio, das afrikanische, asiatische und indische Einflüsse verbindet, wirken dennoch erfrischend.

Bewährte Bausteine von Store-Konzepten aufzugreifen und auf bisher ungesehene Art neu zusammenzufügen – ein Erfolgsgeheimnis der vielbeachteten Retail-Neuzugänge. Wichtig dabei: die eigene Kernkompetenz zu kennen und angemessen herauszustellen. Nach diesem Prinzip handelt auch Joachim Hansen, der Inhaber der dänischen Interior-Design-Brand Menu. Er suchte ein neues Headquarter für seine Marke, wollte gleichzeitig einen Store und ein Café eröffnen und seine Möbel in einem wohnlichen Umfeld präsentieren. Das Ergebnis: ein ganzheitliches Ensemble aus Retail Space, Office, Verkaufsfläche, Gastronomie und Luxus-Unterkunft.

The Audo in Kopenhagen: ganzheitliches Ensemble aus Retail Space, Office, Verkaufsfläche, Gastronomie und Luxus-Unterkunft

The Audo in Kopenhagen: ganzheitliches Ensemble aus Retail Space, Office, Verkaufsfläche, Gastronomie und Luxus-Unterkunft
Foto: Jonas Bjerre-Poulsen and Mario Depicolzuane

The Audo ist seit seiner Eröffnung im Mai 2019 das pulsierende Herz des aufstrebenden Kopenhagener Design-Distrikts Nordhavn geworden. Die 10 in warmen Erdtönen gehaltenen Gästesuiten und das Café-Restaurant im Erdgeschoss dienen gleichzeitig als Showrooms. Möbel, Leuchten und Heimaccessoires werden so unmittelbar erlebbar und können im Store käuflich erworben werden. „Wir wollten einen neuen Ansatz schaffen, ein Design-Business, das sich durch Transparenz, Offenheit, das Teilen von Wissen und die enge Zusammenarbeit der Partner auszeichnet“, erklärt Hansen. So beherbergt The Audo auch eine Bibliothek von Materialproben und Musterbücher anderer Designfirmen, die Teil des visionären Projekts sind, und folgt damit konsequent seinem Credo. „Audo“ nämlich ist ein Akronym des lateinischen „ab uno disce omnes“ – übersetzt: „von einem lernt alle“. Eine Lektion, von der der Einzelhandel profitieren kann.