„Das befürchtete Geschäftssterben ist ausgeblieben“

Nachhaltigkeitsforscher Dr. Dirk von Schneidemesser erläutert anhand von Modellen in Gent, Barcelona und Groningen, wie Handel auch ohne Autoverkehr erfolgreich funktionieren kann.

Komplett autofrei ist laut Dr. Dirk von Schneidemesser vom Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit im Helmholtz-Zentrum Potsdam keine Innenstadt in Europa. Das alternative Wohnviertel Christiana in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen schmückt sich zwar mit diesem Label. „Aber selbst dort ist unter gewissen Voraussetzungen die Zufahrt möglich“, sagt von Schneidemesser. Der Wissenschaftler kennt dennoch einige Beispiele für autoarme Innenstädte und hat untersucht, wie sich kommunale Beschlüsse auf den Handel vor Ort ausgewirkt haben. Geht es auch autofrei?

Rund um die City

2017 führte Mobilitätsminister Filip Watteeuw im belgischen Gent ein neues Verkehrskonzept ein. Er teilte die Metropole Flanderns in sechs neue Bezirke auf. Direkte Fahrten zwischen den Bezirken waren für Pkw-Fahrer:innen ab diesem Zeitpunkt tabu. Sie müssen seitdem eine Ringstraße am Stadtrand nutzen. Ins Zentrum dürfen Autos nicht. Das Zirkulationskonzept wirkte sich auch auf das Mobilitätsverhalten aus. „Viele Bürger sind danach vom Auto aufs Rad umgestiegen oder waren fortan als Fußgänger unterwegs“, sagt von Schneidemesser. Der Einzelhandel profitierte von der Maßnahme. Die Leerstandsquote sank, die Zahl der Gelegenheitskäufe stieg. „Wenn ich mich mit langsamer Geschwindigkeit durch die Einkaufszonen bewege, kann ich das Angebot genauer studieren“, erklärt von Schneidemesser. „Die Zeit für eine Parkplatzsuche entfällt hingegen.“

In Gent profitiert der Einzelhandel in der Innenstadt von einem neuen Zirkulationskonzept

In Gent profitiert der Einzelhandel in der Innenstadt von einem neuen Zirkulationskonzept
Foto: Pixabay

Langsam hat Vorfahrt

Umweltingenieur Salvador Rueda ist der geistige Vater des „superilla“, wie der sogenannte Superblock auf Katalanisch heißt. Mit dem Begriff werden in Barcelona neun zusammengefasste Wohnblöcke bezeichnet, in denen Fußgänger:innen und Radfahrer:innen Vorfahrt haben und Autos nur geduldet werden, wenn sie nicht schneller als mit zehn Stundenkilometern unterwegs sind. Der Verkehr wird über die Hauptadern außen herumgeführt, im Superblock bleiben der Durchgangsverkehr und das Parken verboten. Die spanische Stadt setzte das Konzept nach der Jahrtausendwende um. Der erste Superblock entstand im Stadtviertel Poble Nou. Anfangs gab es noch Widerstand von Geschäftsleuten und Autofahrer:innen. „In den bisher gestalteten Superblocks ist das befürchtete Geschäftssterben ausgeblieben“, sagt Dirk von Schneidemesser. Die Anzahl der lokalen Läden stieg sogar um 30 Prozent.

Pioniergeist

Im niederländischen Groningen ist bereits in den 1970er-Jahren ein Konzept zur Förderung des nicht motorisierten Verkehrs umgesetzt worden. Im Rathaus wurde entschieden, die Stadt in vier Sektoren aufzuteilen. Eine unmittelbare Verbindung für Pkw gab es fortan nicht mehr. Stattdessen mussten die Autofahrer:innen aus dem Sektor heraus auf einen vierspurigen Ringweg außerhalb des Zentrums fahren. Der Fuß- und Radverkehr konnte die direkten Strecken nutzen und war dadurch schneller unterwegs. „Ebenso wie in Barcelona gab es damals einen großen Aufschrei der Händler“, erzählt Dirk von Schneidemesser. „Sie fürchteten durch dieses neue System um ihre Existenz.“ Doch die Sorgen blieben unbegründet. „Groningen ist eine wohlhabende Stadt, in der der Einzelhandel regelrecht boomt.“

„Dem Handel sind Brieftaschen wichtiger als besetzte Parkplätze“

Verkehrsforscher Dr. Harald Frey von der TU Wien erklärt, warum das Konzept der autofreien Innenstadt eine Chance sein kann.

Der stationäre Handel ächzt unter dem Wettbewerb mit dem Online-Geschäft. Viele Einzelhändler befürchten, dass für Fahrzeuge gesperrte Innenstädte das Problem noch verschärfen könnten. Wie bewerten Sie die Situation?

Ich teile diese Sorge nicht. Der Einzelhandel muss Kund:innen wieder in die Innenstädte locken, indem er das Einkaufen zu einem Erlebnis macht. Dazu braucht es auch Veränderungen im öffentlichen Raum. Die Leute wollen die historischen Zentren besuchen oder auf einer begrünten Fläche einen Kaffee genießen. Gibt es solche Anreize, sind steigende Frequenzen und Umsätze die Folge.

Welche Vorteile könnte eine autofreie Innenstadt für den Handel bringen?

Aktuell ist der öffentliche Raum in den Städten noch durch viele Parkplätze begrenzt. Unsere Studien besagen, dass in einem Auto, das zum Einkauf in die Innenstadt fährt, im Durchschnitt 1,2 Menschen sitzen. Dem Handel sind aber Brieftaschen wichtiger als besetzte Parkplätze. Eine Steigerung kann durch ein flächeneffizientes Mobilitätskonzept erreicht werden. Wenn ich aus einer Parkfläche einen Fußgängerbereich mache, können sich auf den anders genutzten 20 qm dann 15 Kund:innen bewegen. Und die haben auch 15 Brieftaschen dabei. An welcher Stelle ist die Idee in Bezug auf den Einzelhandel noch nicht ausgereift? Es braucht mehrere Subzentren, in denen die Kunden flanieren können. Allerdings gibt es außerhalb der Innenstädte noch viele Einkaufszentren, die Gratisparkplätze anbieten. Unser Lehrstuhl plädiert dafür, auch dort Gebühren zu erheben und mit den Einnahmen den lokalen Handel in den Städten zu unterstützen.

Wie sehen Sie das Rad- und Verkehrswegenetz sowie den öffentlichen Personennahverkehr in Deutschland und Österreich aufgestellt?

Die Friedrichstraße in Berlin war zwischenzeitlich eine autofreie Zone. Mittlerweile können Pkw dort wieder fahren

Die Friedrichstraße in Berlin war zwischenzeitlich eine autofreie Zone. Mittlerweile können Pkw dort wieder fahren
Foto: CC0/Gerd Danigel

Da gibt es definitiv noch Nachholbedarf. Wenn eine Person bereit ist, mit dem Fahrrad in die Stadt zu fahren, es aber an sicheren und attraktiven Radwegen oder Abstellanlagen für den Radverkehr fehlt, wird er wieder das Auto wählen. Auch hier geht es um Flächeneffizienz. Dort, wo heute noch ein Auto parkt, können bei einer Umwidmung bis zu zehn Fahrräder Platz finden. Auch an Haltestellen von Straßenbahnen, die gerade eine Renaissance in den Städten erleben, oder an U-Bahn-Stationen müssen mehr Abstellmöglichkeiten entstehen. Das Fahrrad dient oft auch als Zubringer zum öffentlichen Personennahverkehr und kann durch solche Maßnahmen aufgewertet werden.

Autofahrer:innen dürften allerdings Sturm laufen, sollten sie nicht mehr zum Einkaufen in die Citys kommen.

Aber diese Gruppe ist heute schon deutlich in der Minderheit. Der Anteil der Personen, der mit dem Auto in die Innenstadt fährt, liegt in Städten wie Berlin, Dresden, Wien oder Zürich nur noch im einstelligen Prozentbereich. Die Einzelhändler hören aber häufig Beschwerden von Leuten, die ihren Pkw nicht direkt vor der Ladentür abstellen können. Seltener echauffiert sich ein Kunde oder eine Kundin, weil der Gehweg zu schmal oder der Fahrradweg zu holprig ist. Und so werden Probleme größer gemacht, als sie in der Realität sind. Es braucht eine rationale Sicht auf das Thema.

Was ist zu beachten, wenn ich eine Stadt autofrei machen möchte?

Ich muss Anreize bieten für diejenigen, deren Mobilitätsverhalten noch stark vom Auto geprägt ist. Städte können durch Aufkäufe die Garagenkapazitäten für die Bevölkerung erhöhen. Damit können Maßnahmen zur Verbesserung der Aufenthaltsqualität, wie breitere Gehsteige und Begrünung, besser verargumentiert werden und die Pkw aus dem öffentlichen Raum schrittweise verschwinden. Wenn ich die Radinfrastruktur verbessere, setzen die Leute auch verstärkt auf dieses Transportmittel. Maßnahmen wie Pop-up-Radwege können dazu beitragen, die Verkehrswende voranzubringen.

Sie stammen aus Wien. Gibt es in Österreich Konzepte, die wegweisend sind?

Wir haben im Stadtbezirk Favoriten ein Konzept namens „Supergrätzl“ entwickelt und uns dafür von der Idee der Superblocks in Barcelona inspirieren lassen. Ein Grätzl ist eine Einheit mit mehreren Häuserblocks. Die Fläche beträgt circa 400 mal 400 m. Wir wollen einen verkehrsberuhigten Kern mit hoher Aufenthaltsqualität schaffen. Der motorisierte Durchgangssverkehr wird unterbunden, im Gegenzug wird der Fuß- und Radverkehr gefördert. Das geschieht durch eine selbsterklärende Infrastruktur: Radler:innen können an den Kreuzungen weiterhin in alle Richtungen fahren, die Kfz sind nur noch auf den umliegenden Hauptstraßen unterwegs. Sie können zum Grätzl also zufahren, aber nicht mehr durchfahren. Die Umorganisation des Straßenraums ermöglicht neue Nutzungen im öffentlichen Raum und mehr Bewegungsfreiheit in Kombination mit Begrünungsmaßnahmen. Kürzlich haben wir die Testphase des Konzepts abgeschlossen, jetzt soll es dauerhaft umgesetzt werden. Das wird auch dem Einzelhandel in diesem Bereich helfen.

Lenken wir abschließend den Blick weg von Mitteleuropa. Gibt es da Modelle, die Sie beeindrucken?

Es muss uns gelingen, Produktion, Handel und Konsum wieder näher zusammenzubringen. Als das Auto seinen Siegeszug begann, sind die Einheiten auseinandergegangen, weil die Entfernungen keine Rolle mehr gespielt haben. Dann fuhren immer mehr Pkw über die Straßen, was zu einer hohen Emissionsbelastung und innerstädtischen Staus geführt hat. In vielen historischen Städten und Vierteln bestehen solche Einheiten noch. Wir sollten uns deshalb Strukturen mit einer hohen Nutzungsmischung und Vielfalt, wie wir sie heute etwa noch bei den historischen Märkten erleben können, zum Vorbild nehmen. Ich denke an das Viertel Kapali Carsi in der türkischen Metropole Istanbul mit seinen großen Einkaufsbasaren. Dort funktioniert der Einzelhandel – und das ohne jeglichen Autoverkehr.