Die Handelsbranche ist derzeit von einem strukturellen Konsolidierungsprozess geprägt. Die Anzahl der kleinen Händler sinkt, ihre Marktanteile nehmen stetig ab. Dafür werden die Ursachen häufig im wachsenden E-Commerce und Online-Handel gesucht.
Der Anteil des E-Commerce hat in den letzten 15 Jahren laut HDE-Zahlenspiegel um mehr als 50 Prozent zugenommen und steigt auch noch weiter an. 2022 wurden über 606 Mrd. Euro im Handel umgesetzt, davon fielen 97 Mrd. Euro auf den Online-Handel. Er macht gegenüber den klassischen Ladengeschäften weiter Boden gut. Der Vergleich zeigt aber: Der meiste Umsatz wird immer noch stationär generiert.
Wandel im Handel
Wenn Retailer in Zukunft erfolgreich mit den neuen Formen des Wettbewerbs mithalten möchten, stehen sie vor der Aufgabe, auf die sich wandelnden Konsumgewohnheiten einzugehen und der Kundschaft durch flexible Konzepte vor Ort innovative und begeisternde Einkaufserlebnisse zu bieten, um die Bindung zu stärken.
Die Technologisierung stellt für den Einzelhandel in diesem Zusammenhang eine Chance dar. Zugleich sind in den vergangenen zehn Jahren Erkenntnisse aus der Hirnforschung in die Gestaltung von Handelsflächen eingeflossen. Multi- sensorische Einflüsse auf Kaufentscheidungen haben an Bedeutsamkeit gewonnen und werden in Ladenbau und Storedesign immer wichtiger – der Handel wird mehr und mehr zu einem sogenannten „dritten Ort“.
Ein „Third Place“ ist ein Ort, der weder der Arbeitsstätte noch dem Wohnort entspricht. Er ist ein neutraler Treffpunkt, an dem Menschen zusammenkommen, um sich zu begegnen, zu entspannen, zu lernen oder zu arbeiten. Dritte Orte sind in der Regel öffentlich zugänglich und können Cafés, Bars, Bibliotheken, Coworking-Spaces oder eben Retail-Flächen sein. Sie wollen häufig eine Wohlfühlatmosphäre bieten und dienen dazu, neue Kontexte zu schaffen und Kaufentscheidungen zu erleichtern.
Emotionale Freiheit
So hat Lena Moos, Inhaberin des Düsseldorfer Brautmodengeschäfts Lemoos, ein Store-Konzept aufgesetzt, das diese Erkenntnisse aufgreift und ihren Laden zu einem Ort des Miteinanders gemacht: Das Herzstück des 300 qm großen Showrooms auf zwei Etagen bildet der Anprobebereich, der mit einem glamourösen Catwalk aufwartet. Hier können die zukünftigen Bräute ihre ausgewählten Kleider, die sie in einer geräumigen Umkleide angepasst bekommen haben, Freund:innen und Familienangehörigen präsentieren.
Sobald eine Braut ihre Entscheidung getroffen hat, kann sie einen roten But ton am Laufsteg betätigen, es ertönt Musik, ein Spiegel öffnet sich und gibt eine Sektbar frei – es darf gemeinsam gefeiert werden, ein „Third Place“ ist entstanden.
Lena Moos‘ Geschäftsidee basiert auf dem Prinzip „Mix und Match“, d. h. die Kund:innen können sich aus einzelnen Brautkleidkomponenten individuelle Kombinationen für den „schönsten Tag des Lebens“ selbst zusammenstellen. Gemixt und verzahnt ist aber auch das Offline- Einkaufserlebnis mit dem Online-Angebot: Im stationären Geschäft sollen sich die Kund:innen und ihre Begleitungen wohlfühlen und genügend Privatsphäre für Emotionen haben. Beleuchtung und moderne Schaufensterfiguren runden das Raumkonzept ab. Im Eingangsbereich soll ein Selfiepoint den Wunsch erwecken, mit dem künftigen Kleid daneben zu posieren und Bilder in Social Media zu posten.
Unschlüssige können auf einer großflächigen Display-Wand in die digitale Welt eintreten und verschiedene Kombinationsmöglichkeiten durchspielen. Im Vorfeld lassen sich auf der Webseite von Lemoos die Einzelteile betrachten, künftig sollen sie hier zur Verfügung stehen.
Live Shopping vor Ort
Auch die drei Concept Stores von „Fräulein Mode und Wohnen“ in Kempen, Meerbusch und Ratingen sind Beispiele für dritte Orte, an denen digitale und physische Verkaufskanäle miteinander verknüpft werden. Der Ladenbau folgt dem Upcycling-Trend „Kein Möbel ist neu“. Eigentümerin Simona Libner beauftragte Hung Bui, einen ehemaligen Trödelhändler, der mittlerweile selbst als Storedesigner bekannt ist, die Inneneinrichtung zu gestalten.
Alte Möbel wurden modifiziert und bekamen neue Funktionen: So hängen etwa ausrangierte Kirchenbänke in Augenhöhe an der Wand und dienen als Regale und Warenträger, alte Fenster und Türen wurden zu Schuhregalen. Geräumige Umkleiden mit positiver Beleuchtung sollen Kaufentscheidungen unterstützen.
Zugleich spielen die Läden auch im digitalen Raum eine Rolle, indem sie als Studios für Live-Shopping- Events genutzt werden und eine Kulisse bilden, die im Ladengeschäft einen Wiedererkennungswert besitzt. Die Kleidungsstücke, die im Livestream vorgestellt werden, können auch im Onlineshop bestellt werden. Der Kaufimpuls wird über den Stream geweckt und kann online verfolgt werden.
Bei beiden Store-Konzepten fällt auf, dass sich die Emotionalisierung des Ortes online widerspiegelt. An dieser Stelle wachsen beide Welten zusammen und können positiv auf die jeweils andere abstrahlen. Studien haben gezeigt, dass in der Customer Journey der Informationsbedarf hoch angesiedelt ist. Ob sich Kund:innen vor oder nach dem Besuch des Ladengeschäfts über das Unternehmen und sein Angebot informieren wollen, spielt eine untergeordnete Rolle.
Händler ohne Online-Präsenz riskieren Verluste. Wer eine Symbiose zwischen Online, Offline und dem „dritten Ort“ erschafft, trifft den Nerv unserer Gesellschaft. Wer zu seinen Produkten passende Kontexte mitliefert, kann mehr Kund:innen für sich begeistern.