Der Onlinehandel in Deutschland bewegt sich in ungewohntem Fahrwasser. Nach Jahren des Wachstums waren die Umsätze des E-Commerce 2022 erstmals rückläufig. Aktuellen EHI-Studien zufolge verzeichneten die 1.000 umsatzstärksten B2C-Onlineshops einen Rückgang von 2,8 Prozent auf 77,7 Mrd. Euro. Erholungstendenzen sind nicht in Sicht.

„Der E-Commerce ist in einen Dornröschenschlaf verfallen“, sagt Benjamin Birker, Leader Retail & Consumer Goods Practice bei Telekom MMS. Die Konsumzurückhaltung als Folge der angespannten Marktlage mit hoher Inflation und geopolitischen Unsicherheiten gelten als Hauptgründe dafür, dass der B2C-Onlinehandel zuletzt auf die Bremse getreten ist. Gefragt sind daher Wege und Strategien, die den E-Commerce auf den Wachstumspfad zurückbringen.

KI an der Kundenschnittstelle

Nachbesserungsbedarf sehen viele IT-Experten im Bereich Customer Experience bei Onlineshops. „Es gibt immer noch viele Filterkriterien, die es verhindern, komfortabel ein Produkt zu finden“, kritisiert Benjamin Birker. Und genau da kann die Technologie der Künstlichen Intelligenz ansetzen. Chatbots, Produktempfehlungen oder die automatische Beantwortung von Kundenbewertungen werden im E-Commerce bereits eingesetzt und lassen sich mit relativ wenig Aufwand implementieren. Mit Large-Language-Modellen haben sprachbasierte KI-Technologien nochmals einen großen Entwicklungssprung in Richtung Individualisierung der Kundenansprache gemacht.

Maximilian Diener von EPAM, einer global operierenden Technologie- und Unternehmensberatung, stellte im Rahmen der EHI-Session das Projektbeispiel eines digitalen Sales Assistant vor, der einen Kunden beim Online-Kauf eines Hochzeitsanzugs berät. Der Dialog per Texteingabe und Sprache (Speech-to-text/Text-to-speech) unterscheidet sich kaum mehr von einer persönlichen Kaufberatung in einem physischen Geschäft. Kombinieren lässt sich die KI-Anwendung mit der realitätsnahen Darstellung einer Beratungsperson. Voraussetzungen sind strukturierte Produktdaten und die Integration aller Bausteine wie Chat GPT, Image Recognition und Large Language. Alle Puzzle-Stücke müssten ineinandergreifen, damit ein Chat entsteht, der wirklich anders wahrnehmbar ist, sagt Olaf Acker von EPAM.

Der E-Commerce ist im Dornröschenschlaf.

Benjamin Birker

Leader Retail & Consumer Goods Practice, Deutsche Telekom MMS

Der Zeitpunkt wird kommen, dass alle KI-Systeme personalisierte Bots haben.

Joubin Rahimi

Geschäftsführer, Synaigy

KI-gestützte Inhaltserstellung

Detaillierte Produktbeschreibungen sind im E-Commerce unverzichtbar. Dabei ist der Aufwand für die Generierung von Texten je nach Sortimentsumfang immens. Gleichzeitig eine individuelle Kundenansprache mit personalisierten Botschaften zu erreichen, erscheint in Anbetracht der Menge an zu generierenden Inhalten so gut wie unmöglich. Arvato Systems, Anbieter ganzheitlicher Lösungen für Consumer Products und die Retailbranche, hat eine KI-gestützte Inhaltserstellung mit individualisierten Texten entwickelt und bei einem Automobilhersteller und -händler zur Anwendung gebracht.

In den Prompts werden bei gleichem Ursprungstext unterschiedliche Zielgruppen definiert: Berufliche Vielfahrer, sportliche Fahrer und sicherheitsbewusste Familienväter erhalten individualisierte Texte nach dem Profil von Personen, die in der KI generiert werden. „Mit der KI ist es möglich, qualitativ bessere Texte zu machen und diese individuell auszuspielen“, fasst Stefan Blömer von Arvato die Erfahrungen aus dem Projekt zusammen.

Composable Commerce: Plattform für den digitalen Handel

Welche Software-Architektur soll man einsetzen, um die Kundenbedürfnisse im E-Commerce zu bedienen? Terrie Ademi von Telekom MMS erläuterte im Rahmen der Session das Prinzip von „Composable Commerce“, einer flexiblen und skalierbaren Software-Architektur, die es ermöglicht, für die jeweilige Business- Anwendung die passenden Technologien auszuwählen und zu verbinden. Grundlage dafür ist die sogenannte MACH-Architektur: M steht für Microservices, A für API first, C für Cloud Native SaaS und H für Headless. Im Gegensatz zum monolithischen E-Commerce-System mit starren Frontend- und Backendschnittstellen, bei dem alle Features und Funktionalitäten in den Kern des Systems programmiert werden, kann der Composable- Commerce-Ansatz laut Ademi ein hohes Maß an Flexibilität und Skalierfähigkeit gewährleisten.

Empathische Online-Personalisierung

Geschultes Verkaufspersonal in stationären Läden kann sich in die Gedanken- und Gefühlswelt der Kundschaft hineinversetzen und gezielt auf deren Bedürfnisse eingehen. Diese individuelle Beratung geht im digitalen Raum größtenteils verloren. „Brytes“, eine Entwicklung von Synaigy, Spezialist für digitale Kundenkommunikation, erkennt mithilfe einer Künstlichen Intelligenz das individuelle Such- und Kaufverhalten der Onlineshopper.

Besucht eine Person den Webshop, um gezielt etwas einzukaufen oder geht es ihr mehr darum, die Relevanz des Onlineshops zu prüfen? Laut Joubin Rahimi von Synaigy ist es möglich, an der „digitalen Körpersprache“ die Intention des Shop-Besuchers oder der -Besucherin zu erkennen und eine Beratung anzubieten, die auf deren spezielle Bedürfnisse ausgerichtet ist.

Die KI ist der Enabler für Dynamic Pricing.

Markus Elbers

Senior Client Solution Executive, AI Services, GK Software

Customer Operations ist eines der Hauptanwendungsfelder generativer Künstlicher Intelligenz.

Olaf Acker

Managing Director, Global Advisory, EPAM

Dynamic Pricing im E-Commerce

Künstliche Intelligenz wird bei Dynamic- Pricing-Modellen eingesetzt, um die Preisberechnung für Produkte zu überwachen, zu steuern und anzupassen. Eine KI-gestützte Pricing-Software sei kein geschlossenes System und keine Blackbox ohne manuelle Eingriffsmöglichkeit, räumt Markus Elbers von GK Software mit einem Vorurteil auf. Über strategische Einstellungen wie Umsatz- oder Margenoptimierung lasse sich in der Pricing Software ein Korridor definieren, in dessen Grenzen die Preisberechnung erfolgt.

Die Popken Fashion Group hat es über eine dynamische Steuerung der Algorithmen geschafft, eine Rohertragssteigerung von 82 Cent pro Artikel zu erzielen, berichtet Elbers von einem Kundenprojekt. Beim Onlinehändler Bergzeit führte die Anwendung von Dynamic Pricing zu einer Zeiteinsparung bis zu 75 Prozent im Vergleich zum manuellen Pricing. Elbers: „Für unsere Pricing Software brauchen wir Transaktionsdaten und Produktstammdaten. Hier sind die Händler im E-Commerce nach unserer Erfahrung sehr gut aufgestellt.“