Der Online-Handel konnte in den letzten Monaten starke Zuwächse verzeichnen. Welche Entwicklung prognostizieren Sie dem Online-Handel bezogen auf die DACH-Region?

Jan Radanitsch: Der DACH–Raum zählte im Jahr 2020 mit mehr als 100 Mrd. Euro zu den umsatzstärksten Regionen Europas. Corona fungierte hier als Beschleuniger für einen ohnehin schon starken Trend. Es ist zu erwarten, dass diese Entwicklungsdynamik etwas abflachen wird, aber E-Commerce allgemein weiterwächst. Nun gilt es, die Chancen für die Wertschöpfung und das Wirtschaftswachstum zu nutzen – und dafür ist es notwendig, zu wissen, welche Technologien hier den Zugang schaffen, diese zu kennen und einzusetzen. So werden bestimmte Branchen von einer sich abzeichnenden Differenzierung des Trends, etwa in Social Commerce oder M-Commerce profitieren. Darüber hinaus sehe ich den anhaltenden Trend zum regionalen Einkauf als eine große Chance für den E-Commerce der DACH-Region.
Tristan Horx: Der Megatrend Konnektivität ist die zentrale Triebkraft für den Online-Handel. Es wäre aber ein Fehler zu denken, dass der stationäre Einzelhandel durch das Wachstum des E-Commerce künftig tot sein wird. Tatsächlich werden durch diese Art von Dynamik die neuen Technologien sogar den stationären Handel zu seinen ursprünglichen Stärken zurückbringen.

Welche großen Trends verorten Sie hinsichtlich E-Commerce und wie können sich Online-Händler für diese Trends rüsten?

Radanitsch: Die Automatisierung wird dank KI und Machine Learning an Bedeutung gewinnen. Sie erstreckt sich für den Online-Handel über mehrere Ebenen – von der Lagerhaltung über die Marketingautomatisierung bis zur Personalisierung des Einkaufserlebnisses und bedient damit verschiedene gesellschaftliche Megatrends. Es lohnt sich also, sich mit Technologien vertraut zu machen, die die eigene Performance im Vergleich zum Wettbewerber verbessern und ein entsprechendes Kundenverständnis und -engagement gestatten.
Horx: Einige Megatrends haben durch die Pandemie enorm an Dynamik gewonnen und waren für den E-Commerce treibend. Das trifft beispielsweise auf das Thema Konnektivität zu. Auch Nachhaltigkeit bzw. Re-Regionalisierung werden die Entwicklung von E-Commerce prägen. Schon heute zeigt sich außerdem eine große Verschiebung des Konsumverhaltens in Richtung Qualität. Für den elektronischen Handel impliziert dies weitere Anpassungen. Ich denke, dass die Kuratierung der Produkte interessant für den Online-Handel sein wird. Eine optimierte Kuratierung, insbesondere in Branchen wie Fashion, ermöglicht dem E-Commerce, die Rücksendequote zu reduzieren – ökologisch ein wichtiger Meilenstein.

Worin sehen Sie derzeit die größten Hürden und Herausforderungen bzw. woran scheitern Retailer im E-Commerce?

Radanitsch: Leider setzen Generalisten wie Amazon immer noch die Standards im E-Commerce. Dies zählt nach wie vor zu den größten Herausforderungen. Eine weitere Herausforderung besteht darin, Datensilos nachhaltig aufzubrechen, um aus operativen Daten Informationen gewinnen zu können und Optimierungspotenziale für die gesamte Organisation aufzudecken. Die Technologie dafür ist vorhanden. Die Frage ist, wie schnell die Händler es schaffen, ihre Prozesse entsprechend auszurichten.
Horx: Der Online-Handel muss eine synergetische Beziehung zum stationären Handel haben.

Wie können heimische Onlineshops angesichts der Preise der großen internationalen Giganten wettbewerbsfähig bleiben? Und kann das noch aus eigener Kraft gelingen oder braucht es strengere gesetzliche Regelungen?

Radanitsch: Um Schritt zu halten, hilft es, laufend Preise im Blick zu behalten und diese dynamisch zu setzen. Dies ist mit innovativen Software-Lösungen möglich. Abseits von dynamischer Preisgestaltung können Anbieter auch mit anderen Service-Leistungen und Kundenerlebnissen punkten, zum Beispiel mit einem After Sales Support oder Expresslieferungen. Basis dafür ist eine gut funktionierende Logistik, in deren stete Optimierung es sich immer zu investieren lohnt. Zudem können heimische Händler mit eigenen, auf ihre Kundengruppen spezialisierten Marktplätzen und ihrer breiten Vertrauensbasis Boden gegenüber den Platzhirschen wettmachen. Ein gut kuratiertes Sortiment und die entsprechende Beschreibung und Bewerbung sind natürlich die Basis ihres Erfolgs.

Im Gegensatz zu anderen Ländern hat sich der Online-Verkauf im Lebensmittelhandel hierzulande noch nicht durchsetzen können. Was sind die Gründe? Fehlt es an passenden Konzepten?

Radanitsch: Den Lebensmittel-Handel ins Netz zu bringen, bedeutet, hohe Investitionen in Kauf zu nehmen, um sich einer Profitabilität anzunähern. Gleichwohl gibt es hier noch viel Potenzial, denn die Akzeptanz für den Lebensmittel-Online-Handel ist in der Pandemie gestiegen – auch bei den älteren Generationen. Prozentual hat der Lebensmittel-Onlinehandel in DACH während der Krise in allen drei Ländern sogar am stärksten zugelegt. Das Vordrängen vieler Pure Player und Unicorns befeuert schon jetzt den Wettbewerb. In Zukunft wird es für Traditionsunternehmen noch schwerer werden, ohne Anpassungen mitzuhalten. Natürlich wird ein großer Teil der Nachfrage nach Lebensmitteln auf absehbare Zeit auch weiterhin über den stationären Handel gedeckt werden. Ich denke aber, dass Einzelhändler, die schon heute in den Supermarkt der Zukunft – eine Mischung aus Online und Analog – investieren, für eine florierende Omnichannel-Zukunft bestens gerüstet sind.

Welchen Rat geben Sie Lebensmittelhändler in Bezug auf den E-Commerce?

Radanitsch: Kund:Innen sind Online-Angebote von anderen Branchen gewohnt. Erwartungen an den Lebensmittelhandel werden steigen. Deswegen ist es wichtig, zu verinnerlichen, dass der Online-Handel nicht der Feind ist, den es zu bezwingen gilt. Es ist bedeutend, den Prozess der digitalen Transformation und des Online-Wirtschaften ganzheitlich zu begreifen und systematisch anzugehen. Es lohnt sich, Software-Lösungen einzusetzen, die die eigene Performance im Vergleich zum Wettbewerber verbessern und ein entsprechendes Kundenverständnis aber auch Kunden-Engagement gestatten. Denn Kund:innen erwarten nicht nur ein ergänzendes Online-Angebot. Sie wünschen sich eine enge Verzahnung der unterschiedlichen Verkaufskanäle.
Horx: Insbesondere ist es wichtig, heute schon möglichst rasch zu lernen, wie man die Entwicklung in Richtung Online-Handel und Megatrends wie Neo-Ökologie, Re-Regionalisierung und Personalisierung am besten für sich nutzen kann.

Jan Radanitsch ist CEO von Smarter ECommerce (smec), einem SaaS-Anbieter für die Automatisierung von Text- und Shopping-Ads.

Tristan Horx ist Trendforscher. Im Fokus des Kultur- und Sozialanthropologen stehen vor allem die Bereiche Digitalisierung, Lifestyle, Globalisierung und Generationenwandel und hat das Buch mit dem Titel „Unsere Fucking Zukunft. Warum wir für den Wandel rebellieren müssen.“ publiziert.