„Es wird für Handelsunternehmen erfolgsentscheidend sein, sich aktiv mit der Technologie auseinanderzusetzen, um sich im Entwicklungsprozess nicht von anderen Branchen abhängen zu lassen“, sagt Marco Atzberger, EHI-Geschäftsleitung. Gemeinsam mit Dr. Alexander Fink, Vorstand ScMI, und Christoph Maris, Vice President Operations LR Health & Beauty Systems warf Atzberger einen Blick in die Zukunft und stellte die Ergebnisse der aktuellen Szenariostudie „Die Zukunft der Künstlichen Intelligenz im Handel 2030“ vor, die das EHI in Zusammenarbeit mit dem Partner ScMI erstellt hat.

Acht Zukunftsszenarien

Eine flächendeckende Verbreitung von KI- und Automatisierungsanwendungen lässt sich im deutschen Handel aktuell zwar noch nicht feststellen, aber die Nutzung der Technologie steigt. Vielfältige Beispiele und Pilotprojekte finden sich in allen Bereichen des Handels, von der Zentrale über Logistik und Transport bis hin zur Kundenerfahrung und der Filiale.

Insgesamt acht mögliche Szenarien haben Experten aus Handelsunternehmen und Technologie-Dienstleistern entwickelt, die von einer langsamen KI-Entwicklung bis zu einer völligen Umstrukturierung des Marktes durch Künstliche Intelligenz reichen, um Handelsunternehmen dabei zu unterstützen, die richtige Strategie bei der Entwicklung zukünftiger Technologie-Projekte zu finden. Im Rahmen einer Befragung unter den beteiligten Experten wurde deutlich, dass langfristig eine durch KI ausgelöste Disruption im Handel erwartet wird – getrieben durch leistungsstarke autarke und selbstoptimierende Systeme.

Vollautomatisierter 24-Stunden-Shop

Ein aktuelles Beispiel findet sich in Oldenburg: Der Lösungsanbieter Wanzl hat gemeinsam mit Bünting einen vollautomatisierten Store in die Tat umgesetzt. Der Combi City-Markt ermöglicht Verbrauchern über einen separaten Eingang Zugriff auf 500 Artikel aus dem gekühlten und ungekühlten Food-Sortiment, der Obst- und Gemüseabteilung und der Drogerie. Über ein Kassen- und Bestellterminal mit Touchscreen wählt der Käufer seine gewünschten Produkte aus, die der Automat vollautomatisch kommissioniert und nach Abschluss des Einkaufs direkt ausgibt. „Neue Shop-Formate werden die heutige Handelswelt ergänzen, um die Bedürfnisse des Kunden vollständig abzudecken“, sagt Cassandra Klein, Produktmanagerin bei Wanzl.

Fulfillment-Anbieter Office Direkt verfolgt einen ähnlichen Ansatz. Werner Gasper, Geschäftsführer bei Office Direkt, sieht hierbei vor allem noch Optimierungspotential bei der Flächennutzung im stationären Handel: „Wenn man ein stationäres Geschäft im Lebensmittelhandel als schön geschmücktes Lager betrachtet, sind 70 Prozent des Raumvolumens Luft und nur 2 bis 3 Prozent der Ware daraus werden täglich verkauft.“ Ein Lösungsansatz von Office Direkt ist ein Container-Store mit einem KI-basierten Verkaufsautomaten, in dem der Kunde 24 Stunden am Tag per Touchscreen Produkte auswählen kann und anschließend über eine Warenausgabe erhält.

Mehr Einsatzgebiete für Service-Roboter

Gisela im Bikini Berlin, Tory bei Adler: Als Showacts und Verkaufspersonal, aber auch zur automatisierten Inventur und Desinfektion von Geschäften setzen Händler Roboter als elektronische Assistenten bereits seit einiger Zeit ein. Die aktuelle Corona-Krise gibt Anlass dazu, neue Einsatzgebiete zu erschließen. Kommende Woche startet der Empfangsroboter Hugo des Robotik-Spezialisten Pi4 in der Frankfurter Zentrale des Dienstleistungskonzerns Wisag. Der Concierge-Roboter standardisiert die Anmeldeprozesse. Er kann via Ausweis-Scan und Gesichtskontrolle den Zutritt zum Gebäude sichern, druckt den Besucherausweis aus, gibt eine Datenschutz- und Sicherheitseinweisung und achtet – vor dem Hintergrund der Corona-Krise – auf die Anzahl der Personen in der Empfangshalle und im Gebäude. Hugo ist zudem in der Lage, die Körpertemperatur von Personen zu messen.

Der Desinfektionsroboter „Sterybot“ von Metralabs reinigt Ladengeschäfte mittels konzentriertem UV-C-Licht.

Der Desinfektionsroboter „Sterybot“ von Metralabs reinigt Ladengeschäfte mittels konzentriertem UV-C-Licht.
Foto: Metralabs

Laut Wisag konnte Hugo die Anmeldezeit in der Empfangshalle durchschnittlich von sieben auf zwei Minuten reduzieren. Gibt es Probleme, wie zum Beispiel einen verschmutzten Ausweis, wendet sich der Roboter an das menschliche Personal. Im nächsten Schritt möchten Wisag und Pi4 Hugo mit einem Avatar-Modus ausstatten, in dem per Knopf ein Mitarbeiter im „Gesicht“ des Roboters auf dem Bildschirm zugeschaltet wird.

Auch Metralabs erweitert die Einsatzmöglichkeiten für autonome Service-Roboter. Nach dem Inventurroboter Tory, dem autonomen Desinfektionsroboter Sterybot und dem Regal-Scan-Roboter Tory Shelf, der u. a. bei Carrefour und Auchan in Frankreich die Bestandserfassung in den Regalen übernimmt, soll ein Transporttrolley im Store die Regale automatisch befüllen.

Der digitale Zwilling

Wie Innovationen aus den Bereichen Digitalisierung und Industrie 4.0 umfassend in der Produktionslogistik eingesetzt werden können, zeigt Benedikt Weisser von der BMW Group. Für das Gesamtkonzept einer selbstgesteuerten, transparenten und autonomen Transport- und Intralogistik erhielt der Automobilhersteller den deutschen Logistik-Preis im Jahr 2019.  Das Konzept von BMW, „Logistics Next“, unterteilt sich in verschiedene Teilprojekte wie nachhaltige Transporte, autonome Transportsysteme auf Innen- und Außenflächen, Smart Devices, Datenbrillen, kollaborative Logistik-Roboter, virtuelle Realität, Augmented Reality und künstliche Intelligenz.

Bereits im Einsatz sind selbstfahrende Smart Transport Robots, um Rollcontainer auf Logistikflächen zu transportieren. Die flachen Roboter tragen Rollcontainer bis zu einer Tonne Gewicht und bringen diese autonom zum Bestimmungsort der Ware. Eine weitere Entwicklung ist der Autotrailer. BMW setzt das autonome Transportsystem in Außenbereichen ein, das LKW-Anhänger vom Stellplatz zur Ent- und Beladestation auf Werksgeländen transportiert.

Zukünftig möchte BMW seinen Lösungen mit einem „digitalen Zwilling“, also einer virtuellen Simulation, über Nacht automatisiert neue Informationen beibringen. „Ein digitaler Zwilling erfüllt verschiedene Aufgaben, von der Simulation über das Monitoring bis hin zur Steuerung von virtuellen Entitäten und physischen Assets“, erklärt Jan-Andreas Daske, Head of Business Development Principal bei Salt Solutions. In seinem Vortrag präsentierte Daske fünf Schritte, wie Unternehmen resilente Geschäftsprozesse mittels schnell einführbarer IT-Lösungen einfach und flexibel selbst umsetzen können.

Weitere wichtige Themen des Kongresses waren u. a. die Zukunft des digitalen Zwillings, der Einsatz von künstlicher Intelligenz bei der Objektidentifizierung in der Logistikautomation und passgenaue Logistiklösungen im E-Commerce.