Rund 1,45 Mrd. Euro investierten deutsche Handelsunternehmen im vergangenen Jahr in Präventions- und Sicherungsmaßnahmen, um Waren vor Diebstahl zu schützen. Videoüberwachung gehört dabei zu den wichtigsten Maßnahmen. Doch moderne Sicherheitskameras können inzwischen weit mehr als die reine Überwachung eines Geschäfts. In Kombination mit Künstlicher Intelligenz und optischen Sensoren können sie bei der Analyse von Einkaufsgewohnheiten helfen und Informationen dazu liefern, welche Typen von Käufern ein Geschäft betreten und in welche Gänge sie gehen. „Optische Sensoren können Warteschlangen an der Kasse effizienter steuern, Personen im Innen- und Außenbereich zählen und per Heatmapping die Verkaufsfläche optimie- ren“, sagt Kester Peter Brands, Business Development Manager D-A-CH Retail bei HIK Vision.

Schnelle Umrüstung

Eine umfassende Investition in spezielle Kamerasysteme ist dabei nicht unbedingt notwendig. Der Münchner Fashion-Händler Lodenfrey setzt auf die IoT-Plattform des Start-ups Security & Safety Things, um seine Sicherheitssysteme mit neuen Funktionen schnell und flexibel aus- und umzurüsten. Das Besondere: Über die Plattform kann ein Händler Video-Analyse und Künstliche Intelligenz unabhängig vom Kamerafabrikat einsetzen. Hierfür können Nutzer KI-gestützte Video-Analyse-Apps aus dem zugehörigen App-Store herunterladen. Voraussetzung ist lediglich eine geeignete IP-Kamera, die mit dem Betriebssystem des Start-ups kompatibel ist, alternativ kann eine kleine Box angeschlossen werden. Aktuell zählt die Plattform des Robert-Bosch-Tochterunternehmens 92 Apps von rund 30 Unternehmen. „Mithilfe der Plattform konnten wir unsere Sicherheitssysteme schnell umrüsten, um den neuen Hygieneanforderungen in der Corona-Krise gerecht zu werden“, sagt Ralf Mager, CDO bei Lodenfrey.

Mit Videoüberwachung den Self-Checkout gut im Blick

Mit Videoüberwachung den Self-Checkout gut im Blick
Foto: Axis Communications

Durch die Corona-Krise rücken Themen wie Zutrittskontrollen und Systeme zur Personenzählung stärker in den Fokus. „Ein videobasiertes System zur Personenzählung kann zum Beispiel sicherstellen, dass nur registrierte und nur eine bestimmte Anzahl an Personen den Laden betreten“, erklärt Ralph Siegfried, Key Account Manager End Customers bei Axis Communications. Ein Bildschirm oder ein Ampelsystem am Eingang kann dabei Aufschluss über die aktuelle Belegung des Ladens geben. Inzwischen ist die Technik so weit entwickelt, dass sie einzelne Produkte identifizieren und sogar feststellen kann, ob eine Person einen Mund-Nase-Schutz trägt.

Netzwerkbasierte Videosysteme lassen sich darüber hinaus durch IP-Audio ergänzen: Bei langen Warteschlangen wird beispielsweise ein Audioclip abgespielt oder eine entsprechende Benachrichtigung an das Personal gesendet, um lange Wartezeiten für die Kundschaft zu vermeiden. „Die Verbindung von Audio- und Kameralösungen kann aber auch bei Gefahrensituationen oder medizinischen Notfällen in Läden mit wenig Personal eingesetzt werden“, sagt Ralph Siegfried. Netzwerk-Videokameras erfassen den Vorfall, das Service-Center kann dann über IP-Audiosysteme direkt mit der betroffenen Person im Laden kommunizieren und parallel medizinische Hilfe anfordern.

Auch das amerikanische Software-Unternehmen Deep North hat eine Software für KI-gestützte Videoanalyse entwickelt, die anhand des vorhandenen Kameranetzwerks die Zahl der Besucherinnen und Besucher in einem Geschäft zählt und ihre Bewegungen im Laden analysiert. „Der Sicherheitsaspekt ist nur ein Baustein der modernen Kamerasysteme“, sagt Roberto Blickhan, Managing Director bei Deep North. Der Algorithmus wertet aus, wie lange sich die Kund:innen mit einem Produkt auseinandersetzen und ob sie es zum Beispiel wieder zurückstellen und sich für ein anderes Produkt entscheiden. Dabei analysiert die KI nur den Körper und die Bewegungen der Personen, nicht aber die Gesichter und gewährleistet so den Datenschutz. Die Ergebnisse fasst die Lösung auf einem Dashboard zusammen und gibt Handlungsempfehlungen. Dazu Blickhan: „Die KI kann zum Beispiel anhand des Füllstands des Einkaufswagens und der Personenzahl in der Warteschlange vorhersagen, ob eine weitere Kasse geöffnet werden soll.“ Eine entsprechende Meldung erhält der Mitarbeitende über die App auf sein Mobiltelefon oder direkt auf dem Dashboard.

Ikea: Prämierte KI-Lösung

KI-basierte Kameralösung bei Ikea

KI-basierte Kameralösung bei Ikea
Foto: Lightpoet/stock.adobe.com

Für ihre KI-basierte Kamera-Lösung erhielten in diesem Jahr Ikea, Diebold Nixdorf und Checklens den „reta award“ des EHI. Das System erkennt an den SCO-Kassen des Möbelhändlers automatisch Scan-Fehler. Smarte Kameras über dem Self-Checkout-Bereich erkennen jedes einzelne Produkt, die dahinter liegende KI-basierte Lösung vergleicht die visuelle Erkennung mit den Scandaten der Kasse und zeigt der Kundschaft auf dem Bildschirm einen Hinweis, falls ein Produkt nicht gescannt wurde.

Aktuell identifiziert die KI etwa 15.000 Produkte bei Ikea – von der Kerze bis zum Sessel. „Die Besonderheit sind die unterschiedlichen Produktgrößen und -formen wie zum Beispiel von Textilien, die das System identifizieren muss“, sagt Konstantin Heiller, Vice-President Sales & Marketing des Salzburger KI-Unternehmens Checklens. Geldbörsen und andere selbst mitgebrachte Gegenstände der Kundschaft kann das System ignorieren.

Den Checkout im Blick

Im Durchschnitt entfällt laut Ergebnissen des EHI auf jeden deutschen Bürger jährlich ein Warenwert von knapp 30 Euro, der nicht bezahlt wird. Auf den Lebensmittelhandel projiziert bedeutet dies, dass nach wie vor rund jeder 200. Einkaufswagen unbezahlt an der Kasse vorbeifährt. Die Software-Lösung „Signatrix Entrance“ des Berliner Unternehmens Signatrix, die in ausgewählten Filialen von Globus und Edeka zum Einsatz kommt, erkennt auf Basis von Künstlicher Intelligenz, ob sich in einem Einkaufswagen oder einem Einkaufskorb Waren befinden. Schiebt ein Kunde einen gefüllten Einkaufswagen durch den Eingangsbereich aus dem Store, aktiviert die Lösung im Verdachtsfall vorhandene Hinweissysteme oder benachrichtigt einen Mitarbeitenden per Nachricht auf seinem Smartphone. Die Lösung „Signatrix Checkout“ zeigt dem Kassierpersonal den Wageninhalt auf einem Kontrollbildschirm, wenn sich noch Ware im Einkaufswagen befindet. Die Lösung kann mit dem Kassensystem integriert und der Wageninhalt direkt auf dem Kassenbildschirm angezeigt werden.

Die Möglichkeiten moderner Videotechnologie, Sensorik und Künstlicher Intelligenz schöpfen autonome Stores nach dem Konzept von Amazon Go voll aus. Beispiele finden sich inzwischen auch vermehrt in Deutschland: Die Lidl- und Kaufland-Mutter Schwarz hat Mitte März den Pilot-Minimarkt „Shop Box“ auf dem Bildungscampus Heilbronn eröffnet, in dem Studierende und Mitarbeitende des Bildungscampus per Handy einchecken und einkaufen können. Deckenkameras und Bewegungssensoren orten die Kund:innen im Laden und erkennen die Artikel. Mit Wiegesensoren ausgestattete smarte Regale stellen zudem fest, wie viele Produkte ein Kunde entnommen oder wieder zurückgestellt hat. Eine Software analysiert die Daten und ordnet dem jeweiligen Kunden den richtigen Warenkorb zu.

Auch der autonome Store Teo von Tegut setzt auf Kamera- und Sensortechnologie. In Verbindung mit der persönlichen Identifizierung des Kunden via Smartphone- App oder Kundenkarte gewährleistet die Technologie die Sicherheit im Geschäft. Dazu Tegut-Projektleiter Sören Gatzweiler: „Über die Kameras haben wir die Tätigkeiten am Self-Checkout sehr gut im Blick.“