Traditionelle Einflussfaktoren, wie u. a. eine wachsende Sortimentsbreite, volatiles Nachfrageverhalten, knappe Logistik- und Verkaufsflächen sowie ein zunehmender Urbanisierungsgrad, beeinflussen die Lebensmittellogistik seit Jahren. Speziell in der Logistik des Handels ergeben sich vielfältige Anforderungen durch Artikelspektrum/-struktur, Aktionen, Stammdaten, Abfahrtszeiten sowie die Abverkaufshäufigkeit. Gerade im Frischebereich ist der LEH vermehrt an einer zeitlich sehr eng getakteten Anlieferung der Waren interessiert, um die eigenen Lagerbestände kostenoptimiert so gering wie möglich zu halten. Die Herausforderungen an manuelle, teil- oder vollautomatische Kommissionier- und Lagerlösungen sind demnach hoch. Häufig wird auf einen unabhängigen Simulationsberater zurückgegriffen, um eine neutrale Analyse der angebotenen Systeme durchführen zu können.

Die rechnergestützte Simulationstechnik, wie zum Beispiel der digitale Zwilling („Digital Twin“), ist ein wirksames Hilfsmittel zur Untersuchung und Optimierung von Planungs- und Erweiterungskonzepten sowie zur Absicherung von geplanten Investitionen. Sie bietet enorme Potenziale bezüglich Risikominimierung und Kosteneinsparungen.

Es lassen sich verschiedenste Szenarien der Lieferketten oder Logistikzentren zur Absicherung von Entscheidungen durchspielen.

Kamel Klibi

Partner, Miebach Consulting, Frankfurt/Main

Was wäre wenn?

Ein häufig vorherrschender Eindruck ist, dass rechnergestützte Simulationstechnik vor allem der Visualisierung von Materialflüssen dient. Das große Potenzial der Simulation liegt jedoch vielmehr darin, Was-wäre-wenn-Szenarien zu untersuchen. Wie verhält sich ein System unter bestimmten Bedingungen? Wo liegen Leistungs- oder Belastungsgrenzen, wo gibt es beispielsweise Engpässe (Staus)? Welche Optimierungsmaßnahmen lassen sich daraus ableiten? So kann man verschiedene Modelle z. B. der Lieferkette bzw. eines Logistikzentrums entwickeln und unterschiedliche Szenarien durchspielen, wie z. B. Streckenbelieferung oder Zentral- versus Regionalbelieferung.

Trotz der hohen Akzeptanz und der zunehmenden Verbreitung der Simulation in Form von Digital Twins ist die Praxis immer noch durch eine Vielzahl von Einsatzhemmnissen eingeschränkt: Unklare Zielstellungen oder riesige Datenfluten können zu erhöhten zeitlichen und finanziellen Aufwänden führen.

Da Simulation die Aufgabe hat, ein System in einem experimentierfähigen Modell nachzubilden, ist es notwendig, Daten über das abzubildende System zu sammeln und aufzubereiten. Die Daten dienen als Ausgangsbasis für alle durchzuführenden Experimente. Ihre Qualität, Vollständigkeit und Plausibilität nimmt damit unmittelbaren Einfluss auf die Qualität der erzielbaren Ergebnisse.

Neben der qualitativ hochwertigen Datenaufbereitung und Systemkenntnis hat die Wahl eines geeigneten Modelldetaillierungsgrads einen erheblichen Einfluss sowohl auf die Qualität der Simulationsergebnisse als auch auf den notwendigen Modellierungsaufwand.

Die Wahl des richtigen Detaillierungsgrades sowie eine geeignete Modellstrukturierung wiederum verlangt Erfahrung im Aufbau von Simulationsmodellen. Die Simulationssoftware kann die Modellierung diesbezüglich z. B. über die Bereitstellung von geeigneten Bausteinbibliotheken unterstützen.

Aus der Praxis

Ein Einzelhandels-Kunde beabsichtigte den Einsatz der Simulation zur Absicherung des Reengineerings der Logistikstrukturen, insbesondere der neuen Betriebsstrategien im Logistikzentrum. Im Zuge der steigenden Artikelzahlen, des leichten Wachstums und der abzufedernden Spitzen (Ostern, Weihnachten, 4-Tage-Wochen etc.) wollte das Unternehmen die Performance der Anlage deutlich erhöhen und dynamisch simulieren, um durch eine ganzheitliche Betrachtung von der Produktionsplanung bis zur Verladung einen idealen Fluss zu erhalten. Der dortige Logistikbereich sollte ausgebaut und um zwei Hochregallager inklusive mehrerer Vorzonen erweitert werden.

Das Ziel des Projektes waren die Entwicklung dieses Simulationsmodells sowie die Durchführung von Simulationsläufen mit Variationen von Betriebsstrategien und Systemparametern des Logistikzentrums, die dann nachfolgend analysiert und interpretiert wurden. Dadurch konnten Hinweise auf Engpässe und Schwachstellen der geplanten Maßnahmen im Rahmen der Neuplanung der Logistikstrukturen des Logistikzentrums identifiziert und Alternativen zu dessen Optimierung untersucht und empfohlen werden. Im Modell waren alle relevanten Teilprozesse mit ihrem dynamischen Verhalten berücksichtigt und integriert, die Bestandteil der beschriebenen und zu simulierenden Systembereiche waren. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Projektes konnte der Anlagenbetreiber das Modell als digitalen Zwilling für eigene Untersuchungen einsetzen, um z. B. zukünftige Prozessanpassungen, wie die Integration neuer Produkte oder neuer Kunden, vorab zu analysieren. Die Anwender stellen mit dem digitalen Zwilling Zusammenhänge zwischen einzelnen Erkenntnissen her und leiten daraus Schlussfolgerungen zur Optimierung der Planung und Steuerung des Logistikzentrums ab.